»Ja.«
»Wo ist sie?«
»In Rom«, sagte ich, schlug die Augen auf und lachte.
Mein Vater war wirklich vor Angst ganz blaß und alt geworden. Sein Lachen klang erleichtert und doch ärgerlich.
»Du Bengel«, sagte er, »war das Ganze gespielt?«
»Du Bengel«, sagte mein Vater, »du hast mich dran gekriegt.«
»Nein«, sagte ich, »nein, ich habe dich nicht mehr dran gekriegt, als ein wirklich Blinder dich drankriegt. Glaub mir, nicht jedes Tappen und nach Halt Suchen ist unbedingt notwendig. Mancher Blinde spielt, obwohl er wirklich blind ist, den Blinden. Ich könnte jetzt vor deinen Augen von hier bis zur Tür humpeln, daß du vor Schmerz und Mitleid aufschreien und sofort einen Arzt anrufen würdest, den besten Chirurgen der Welt, Fretzer. Soll ich?« Ich war schon aufgestanden.
»Bitte, laß«, sagte er gequält, und ich setzte mich wieder.
»Bitte, setz du dich auch«, sagte ich, »bitte, es macht mich nervös, wenn du so herumstehst.«
Er setzte sich, goß sich Sprudel ein und sah mich verwirrt an. »Man wird aus dir nicht klug«, sagte er, »gib mir doch eine klare Antwort. Ich zahl dir das Studium, egal, wo du hingehen willst. London, Paris, Brüssel. Das Beste ist gerade gut genug.«
»Nein«, sagte ich müde, »es wäre genau das Falsche. Mir nützt kein Studium mehr, nur noch Arbeit. Studiert habe ich, als ich dreizehn, vierzehn war, bis einundzwanzig. Ihr habts nur nicht gemerkt. Und wenn Genneholm meint, ich könnte jetzt noch studieren, ist er dümmer, als ich dachte.«
»Er ist ein Fachmann«, sagte mein Vater, »der beste, den ich kenne.« - »Sogar der beste, den es hier gibt«, sagte ich, »aber nur ein Fachmann, er versteht was von Theater, Tragödie, Commedia dell’arte, Komödie, Pantomime. Aber schau dir einmal an, wie seine eigenen komödiantischen Versuche ausfallen, wenn er plötzlich mit violetten Hemden und schwarzen Seidenschleifen auftaucht. Da würde jeder Dilettant sich schämen. Daß Kritiker kritisch sind, ist nicht das Schlimme an ihnen, sondern daß sie sich selbst gegenüber so unkritisch und humorlos sind. Peinlich. Natürlich, er ist wirklich vom Fach - aber wenn er meint, ich sollte nach sechs
Bühnenjahren noch ein Studium anfangen - Unsinn!«
»Du brauchst also das Geld nicht?« fragte mein Vater. Eine kleine Spur von Erleichterung in seiner Stimme machte mich mißtrauisch. »Doch«, sagte ich, »ich brauche das Geld.«
»Was willst du denn tun? Weiter auftreten, in diesem Stadium ?«
»Welches Stadium?« fragte ich.
»Na«, sagte er verlegen, »du kennst doch deine Presse.«
»Meine Presse ?« sagte ich, »ich bin seit drei Monaten nur noch in der Provinz aufgetreten.«
»Ich habe mir das besorgen lassen«, sagte er, »ich habe es mit Genneholm durchgearbeitet.«
»Verdammt«, sagte ich, »was hast du ihm dafür bezahlt?« Er wurde rot. »Laß das doch«, sagte er, »also, was hast du vor?«
»Trainieren«, sagte ich, »arbeiten, ein halbes Jahr, ein ganzes, ich weiß noch nicht.«
»Wo ?«
»Hier«, sagte ich, »wo sonst ?« Es gelang ihm nur schlecht, seinen Schrecken zu verbergen.
»Ich werde euch nicht belästigen und nicht kompromittieren, ich werde nicht einmal zum jourfixe kommen«, sagte ich. Er wurde rot. Ich war ein paarmal zu ihrem jour fixe gegangen, wie irgendeiner, ohne sozusagen privat zu ihnen zu gehen. Ich hatte Cocktails getrunken und Oliven gegessen, Tee getrunken und mir beim Weggehen Zigaretten eingesteckt, so offen, daß die Diener es sahen und sich errötend abwendeten.
»Ach«, sagte mein Vater nur. Er wand sich in seinem Sessel. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte sich ans Fenster gestellt. Jetzt senkte er nur den Blick und
sagte: »Es wäre mir lieber, du würdest den soliden Weg wählen, den Genneholm
Tasche und zeigte sie ihm. Er beugte sich tatsächlich darüber und sah sie sich an wie ein merkwürdiges Insekt.
»Es fällt mir schwer, dir zu glauben«, sagte er, ich habe dich jedenfalls nicht zum Verschwender erzogen. Was müßtest du denn so monatlich haben, wie hast du dir die Sache gedacht?«
Mein Herz schlug heftig. Ich hatte nicht geglaubt, daß er mir so direkt würde helfen wollen. Ich überlegte. Nicht zu wenig und nicht zuviel, und doch genug mußte ich haben, aber ich hatte keine, nicht die geringste Ahnung, was ich brauchen würde. Strom, Telefon, und irgendwie mußte ich ja leben. Ich schwitzte vor Aufregung. »Zunächst«, sagte ich, »brauche ich eine dicke Gummimatte, so groß wie dieses Zimmer, sieben mal fünf, die könntest du mir aus euren Rheinischen Gummibearbeitungsfabriken billiger besorgen.«
»Schön«, sagte er lächelnd, »ich stifte sie dir sogar. Sieben mal fünf - aber Genneholm meint, du solltest dich nicht mit Akrobatik verzetteln.«
»Werde ich nicht, Papa«, sagte ich, »außer der Matte würde ich wohl noch tausend Mark im Monat brauchen.«
»Tausend Mark«, sagte er. Er stand auf, sein Schrecken war aufrichtig, seine Lippen bebten.
»Na gut«, sagte ich, »was dachtest du denn?« Ich hatte keine Ahnung, wieviel Geld er wirklich hatte. Ein Jahr lang tausend Mark - soviel konnte ich rechnen - waren zwölftausend Mark, und eine solche Summe konnte ihn nicht umbringen. Er war wirklich Millionär, das hatte Maries Vater mir genau erklärt und mir einmal vorgerechnet. Ich erinnerte mich nicht mehr genau. Er hatte überall Aktien und die
»Hände drin«. Sogar in dieser Badezeugfabrik.
Er ging hinter seinem Sessel hin und her, ganz ruhig, die Lippen bewegend, als ob er rechnete. Vielleicht tat ers wirklich, aber es dauerte sehr lange.
daß er mir aus moralischen Gründen jede Unterstützung verweigere und von mir erwarte, daß ich mit »meiner Hände Arbeit« mich »und das unglückliche, anständige Mädchen, das du verführt hast« ernährte. Er habe den alten Derkum, wie ich wisse, immer geschätzt, als Gegner und als Mensch, und es sei ein Skandal.
Wir wohnten in einer Pension in Köln-Ehrenfeld. Die siebenhundert Mark, die Maries Mutter ihr hinterlassen hatte, waren nach einem Monat weg, und ich hatte das Gefühl, sehr sparsam und vernünftig damit umgegangen zu sein.
Wir wohnten in der Nähe des Ehrenfelder Bahnhofs, blickten vom Fenster unseres Zimmers aus auf die rote Backsteinmauer des Bahndamms, Braunkohlenzüge fuhren voll in die Stadt herein, leer aus ihr hinaus, ein trostreicher Anblick, ein herzbewegendes Geräusch, ich mußte immer an die ausgeglichene Vermögenslage zu Hause denken. Vom Badezimmer aus der Blick auf Zinkwannen und Wäscheleinen, im Dunkeln manchmal das Geräusch einer fallenden Büchse oder einer Tüte voll Abfall, die einer heimlich aus dem Fenster in den Hof warf. Ich lag oft in der Wanne und sang Liturgisches, bis die Wirtin mir erst das Singen - »Die Leute denken ja, ich beherberge einen abgesprungenen Pastor« - verbot, dann den Badekredit sperrte. Ich badete ihr zu oft, sie fand das überflüssig. Sie stocherte manchmal mit dem Schüreisen in den heruntergeworfenen Abfallpaketen auf dem Hof, um aus dem Inhalt den Absender zu ermitteln: Zwiebelschalen, Kaffeesatz, Kotelettknochen gaben ihr Stoff für umständliche Kombinationen, die sie durch beiläufig vorgenommene Erkundigungen in Metzgerläden und Gemüsegeschäften ergänzte, nie mit Erfolg. Der Abfall ließ nie bindende Schlüsse auf die Individualität zu. Drohungen, die sie in den wäscheverhangenen Himmel hinauf schickte, waren so formuliert, daß jeder sich gemeint vorkam: »Mir macht keiner was vor, ich weiß, wo ich dran bin.« Wir lagen morgens immer im Fenster und lauerten auf den Briefträger,
der uns
manchmal Päckchen brachte, von Maries Freundinnen, Leo, Anna, in sehr unregelmäßigen Abständen Großvaters Schecks, aber von meinen Eltern nur Aufforderungen, »mein Schicksal in die Hand zu nehmen, aus eigner Kraft das Mißgeschick zu meistern.«
Später schrieb meine Mutter sogar, sie habe mich »verstoßen«. Sie kann bis zur Idiotie geschmacklos sein, denn sie zitierte den Ausdruck aus einem Roman von Schnitzler, der Herz im Zwiespalt heißt. In diesem Roman wird ein Mädchen von seinen Eltern »verstoßen«, weil es sich weigert, ein Kind zur Welt zu bringen, das ein »edler, aber schwacher Künstler«, ich glaube ein Schauspieler, ihr gezeugt hat. Mutter zitierte wörtlich einen Satz aus dem achten Kapitel des Romans: »Mein Gewissen zwingt mich, dich zu verstoßen.« Sie fand, daß dies ein passendes Zitat war. Jedenfalls
»verstieß« sie mich. Ich bin sicher, sie tat es nur, weil es ein Weg war, der sowohl ihrem Gewissen wie ihrem Konto Konflikte ersparte. Zu Hause erwarteten sie, daß ich einen heroischen Lebenslauf beginnen würde: in eine Fabrik gehen oder auf den Bau, um meine Geliebte zu ernähren, und sie waren alle enttäuscht, als ich das nicht tat. Sogar Leo und Anna drückten ihre Enttäuschung deutlich aus. Sie sahen mich schon mit Stullen und Henkelmann im Morgengrauen losziehen, eine Kußhand zu Maries Zimmer hinaufwerfen, sahen mich abends »müde, aber befriedigt« heimkehren, Zeitung lesen und Marie beim Stricken zuschauen. Aber ich machte nicht die geringste Anstrengung, aus dieser Vorstellung ein lebendes Bild zu machen. Ich blieb bei Marie, und Marie war es viel lieber, wenn ich bei ihr blieb. Ich fühlte mich als »Künstler« (viel mehr als jemals später), und wir verwirklichten unsere kindlichen Vorstellungen von Boheme: mit Chiantiflaschen und Sackleinen an den Wänden und buntem Bast. Ich werde heute noch rot vor Rührung, wenn ich an dieses Jahr denke. Wenn Marie am Wochenende zu unserer Wirtin ging, um Aufschub für die Mietzahlung zu erlangen,
fing die Wirtin jedesmal Streit an und fragte, warum ich denn nicht arbeiten ginge.
Marie sagte mit ihrem wunderbaren Pathos: »Mein Mann ist ein Künstler, ja, ein Künstler.« Ich hörte sie einmal von der dreckigen Treppe aus ins offene Zimmer der Wirtin hinunterrufen : »Ja, ein Künstler«, und die Wirtin rief mit ihrer heiseren Stimme zurück: »Was, ein Künstler? Und Ihr Mann ist er auch? Da wird sich das Standesamt aber gefreut haben.« Am meisten ärgerte sie sich darüber, daß wir fast immer bis zehn oder elf im Bett blieben. Sie hatte nicht Phantasie genug, sich auszurechnen, daß wir auf diese Weise am leichtesten eine Mahlzeit und Strom fürs Heizöfchen sparten, und wußte nicht, daß ich meistens erst gegen zwölf in das Pfarr- sälchen zum Training gehen konnte, weil vormittags dort immer etwas los war: Mütterberatung, Kommunionunterricht, Kochkurse oder Beratungsstunde einer katholischen Siedlungsgenossenschaft. Wir wohnten nahe an der Kirche, an der Heinrich Behlen Kaplan war, und er hatte mir dieses Sälchen mit Bühne als Trainingsmöglichkeit besorgt, auch das Zimmer in der Pension. Damals waren viele Katholiken sehr nett zu uns. Die Frau, die im Pfarrheim den Kochlehrgang abhielt, gab uns immer zu essen, was übrig geblieben war, meistens nur Suppe und Pudding, manchmal auch Fleisch, und wenn Marie ihr beim Aufräumen half, steckte sie ihr gelegentlich ein Paket Butter zu oder eine Tüte Zucker. Sie blieb manchmal dort, wenn ich mit dem Training anfing, hielt sich den Bauch vor Lachen und kochte am Nachmittag Kaffee. Auch als sie erfuhr, daß wir nicht verheiratet waren, blieb sie nett. Ich hatte den Eindruck, sie rechnete gar nicht damit, daß Künstler »richtig heiraten«. An manchen Tagen, wenn es kalt war, gingen wir schon früher hin. Marie nahm an dem Kochkurs teil, und ich saß in der Garderobe neben einem elektrischen Heizöfchen und las. Ich hörte durch die dünne Wand das Gekicher im Saal, dann ernste Vorträge über Kalorien, Vitamine, Kalkulation, doch im ganzen schien mir das Unternehmen sehr munter zu sein. Wenn Mütterberatung war, durften wir nicht
erscheinen, bis alles vorbei war. Die junge Ärztin, die die Beratung abhielt, war sehr
auf eine freundliche, aber bestimmte Art, und hatte eine fürchterliche Angst vor dem Staub, den ich aufwirbelte, wenn ich auf der Bühne herumhopste. Sie behauptete später, der Staub hinge noch am Tage darauf in der Luft und gefährde die Säuglinge, und sie setzte es durch, daß ich vierundzwanzig Stunden, bevor sie ihre Beratung abhielt, nicht die Bühne benutzen durfte. Heinrich Behlen bekam sogar Krach mit sei- nem Pfarrer deswegen, der gar nicht gewußt hatte, daß ich dort jeden Tag trainierte, und der Heinrich aufforderte, »die Nächstenliebe nicht zu weit zu treiben«. Manchmal ging ich auch mit Marie in die Kirche. Es war so schön warm dort, ich setzte mich immer über den Heizungskanal; es war auch vollkommen still, der Straßenlärm draußen schien unendlich weit weg zu sein, und die Kirche war auf eine wohltuende Weise leer: nur sieben oder acht Menschen, und ich hatte einige Male das Gefühl, dazuzugehören zu dieser stillen traurigen Versammlung von Hinterbliebenen einer Sache, die in ihrer Ohnmacht großartig wirkte. Außer Marie und mir lauter alte Frauen. Und die unpathetische Art, mit der Heinrich Behlen zelebrierte, paßte so gut zu der dunklen, häßlichen Kirche. Einmal sprang ich sogar ein, als sein Meßdiener ausgefallen war, am Ende der Messe, wenn das Buch von rechts nach links getragen wird. Ich merkte einfach, daß Heinrich plötzlich unsicher wurde, den Rhythmus verlor, und ich lief rasch hin, holte das Buch von der rechten Seite, kniete mich hin, als ich vor der Mitte des Altars war, und trug es nach links. Ich wäre mir unhöflich vorgekommen, hätte ich Heinrich nicht aus der Verlegenheit geholfen. Marie wurde knallrot, Heinrich lächelte. Wir kannten uns schon lange, er war im Internat Kapitän der Fußballmannschaft gewesen, älter als ich. Meistens warteten wir nach der Messe draußen vor der Sakristei auf Heinrich, er lud uns zum Frühstück ein, kaufte auf Kredit in einem Kramladen Eier, Schinken, Kaffee und Zigaretten, und er war immer glücklich wie ein Kind, wenn seine Haushälterin krank war.
Ich dachte an all die Menschen, die uns geholfen hatten,
während sie zu Hause auf ihren Scheißmillionen herumhockten, mich verstoßen hatten und ihre moralischen Gründe genossen.
Mein Vater ging immer noch hinter seinem Sessel hin und her und bewegte rechnend seine Lippen. Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, ich verzichte auf sein Geld, aber irgendwie, so schien mir, hatte ich ein Recht darauf, von ihm etwas zu bekommen, und ich wollte mir mit einer einzigen Mark in der Tasche keinen Heroismus erlauben, den ich später bereuen würde. Ich brauchte wirklich Geld, dringend, und er hatte mir keinen Pfennig gegeben, seitdem ich von zu Hause weg war. Leo hatte uns sein ganzes Taschengeld gegeben, Anna uns manchmal ein selbstgebackenes Weißbrot geschickt, und später hatte uns sogar Großvater hin und wieder Geld geschickt, Verrechnungsschecks über fünfzehn, zwanzig Mark, und einmal aus einem Grund, den ich nie herausbekam, einen Scheck über zweiundzwanzig Mark. Wir hatten jedesmal ein fürchterliches Theater mit diesen Schecks: unsere Wirtin hatte kein Bankkonto, Heinrich auch nicht, er hatte so wenig Ahnung von Verrechnungsschecks wie wir. Er zahlte den ersten Scheck einfach auf das Caritaskonto seiner Pfarre ein, ließ sich an der Sparkasse Zweck und Art des Verrechnungsschecks erklären, ging dann zu seinem Pfarrer und bat um einen Barscheck über fünfzehn Mark -aber der Pfarrer platzte fast vor Wut. Er erklärte Heinrich, er könne ihm keinen Barscheck geben, weil er die Zweckbestimmung erklären müsse, und so ein Caritaskonto sei eine heikle Sache, es würde kontrolliert, und wenn er schriebe: »Gefälligkeitsscheck für Kaplan Behlen, Gegenwert für pri- vaten Verrechnungsscheck«, bekäme er Krach, denn eine Pfarrcaritas sei schließlich kein Umschlagplatz für Verrechnungsschecks »dunkler Herkunft«. Er könne den Verrechnungsscheck nur als Spende für einen bestimmten Zweck deklarieren, als unmittelbare Unterstützung von Schnier für Schnier, und mir den Gegenwert bar als
Spende der Caritas auszahlen. Das ginge, sei aber nicht ganz korrekt. Es dauerte
im ganzen zehn Tage, bis wir die fünfzehn Mark wirklich hatten, denn Heinrich hatte natürlich noch tausend andere Dinge zu tun, er konnte sich nicht ausschließlich der Einlösung meiner Verrechnungsschecks widmen. Ich bekam jedesmal einen Schrecken, wenn ich danach von Großvater einen Verrechnungsscheck bekam. Es war teuflisch, es war Geld und doch kein Geld, und es war nie das, was wir wirklich brauchten: unmittelbar Geld. Schließlich richtete sich Heinrich selbst ein Bankkonto ein, um uns Barschecks für die Verrechnungsschecks geben zu können, aber er war oft für drei, vier Tage weg, einmal war er für drei Wochen in Urlaub, als der Scheck über zweiundzwanzig Mark kam, und ich trieb schließlich in Köln meinen einzigen Jugendfreund auf, Edgar Wieneken, der irgendein Amt—ich glaube Kulturreferent bei der SPD - bekleidete. Ich fand seine Adresse im Telefonbuch, hatte aber keine zwei Groschen, um ihn anzurufen, und ging zu Fuß von Köln-Ehrenfeld nach Köln-Kalk, traf ihn nicht an, wartete bis acht Uhr abends vor der Haustür, weil seine Wirtin sich weigerte, mich in sein Zimmer zu lassen. Er wohnte in der Nähe einer sehr großen und sehr dunklen Kirche, in der Engelsstraße (ich weiß bis heute nicht, ob er sich verpflichtet fühlte, in der Engelsstraße zu wohnen, weil er in der SPD war). Ich war vollkommen erledigt, todmüde, hungrig, hatte nicht einmal Zigaretten und wußte, daß Marie zu Hause saß und sich ängstigte. Und Köln-Kalk, die Engelsstraße, die chemische Fabrik in der Nähe — das ist kein heilsamer Anblick für Melancholiker. Ich ging schließlich in eine Bäckerei und bat die Frau hinter der Theke, mir ein Brötchen zu schenken. Sie war jung, sah aber mies aus. Ich wartete, bis der Laden einen Augenblick leer war, ging rasch hinein und sagte, ohne guten Abend zu wünschen: »Schenken Sie mir ein Brötchen.« Ich hatte Angst, es würde jemand reinkommen — sie sah mich an, ihr dünner grämlicher Mund wurde erst noch dünner, rundete sich dann, füllte sich, dann steckte sie ohne ein Wort drei Brötchen und ein
Stück Hefekuchen in eine Tüte und gab es mir. Ich glaube, ich
sagte nicht einmal Danke, als ich die Tüte nahm und rasch wegging. Ich setzte mich auf die Türschwelle des Hauses, in dem Edgar wohnte, aß die Brötchen und den Kuchen und fühlte ab und zu nach dem Verrechnungsscheck über zweiundzwanzig Mark in meiner Tasche. Zweiundzwanzig war eine merkwürdige Zahl, ich grübelte darüber nach, wie sie zustande gekommen sein konnte, vielleicht war es irgendein Rest auf einem Konto gewesen, vielleicht sollte es auch ein Witz sein, wahrscheinlich war es einfach Zufall, aber das Merkwürdige war, daß sowohl die Ziffer 22 wie in Worten Zweiundzwanzig drauf stand, und Großvater mußte sich doch irgend etwas dabei gedacht haben. Ich bekam es nie heraus. Später entdeckte ich, daß ich nur eineinhalb Stunden in Kalk in der Engelsstraße auf Edgar gewartet hatte: es kam mir vor wie eine Ewigkeit voller Trübsal: die dunklen Häuserfronten, die Dämpfe von der chemischen Fabrik. Edgar freute sich, mich wiederzusehen. Er strahlte, klopfte mir auf die Schulter, nahm mich mit auf sein Zimmer, wo er ein großes Foto von Brecht an der Wand hatte, darunter eine Klampfe und viele Taschenbücher auf einem selbst zusammengehauenen Regal. Ich hörte ihn draußen mit seiner Wirtin schimpfen, weil sie mich nicht reingelassen hatte, dann kam er mit Schnaps zurück, erzählte mir strahlend, er habe soeben im Theaterausschuß eine Schlacht gegen die »miefigen Hunde von der CDU« gewonnen, und forderte mich auf, ihm alles zu erzählen, was ich, seitdem wir uns zuletzt gesehen hatten, erlebt hatte. Wir hatten als Jungen jahrelang miteinander gespielt. Sein Vater war Bademeister, später Platzwart auf dem Sportgelände in der Nähe unseres Hauses. Ich bat ihn, mir die Erzählung zu ersparen, klärte ihn in Stichworten über meine Situation auf und bat ihn, mir den Scheck doch zu versilbern. Er war furchtbar nett, er verstand alles, gab mir sofort dreißig Mark bar, wollte den Scheck gar nicht haben, aber ich flehte ihn an, den Scheck zu nehmen. Ich glaube, ich weinte fast, als ich ihn bat, den Scheck doch zu nehmen. Er nahm ihn, ein
bißchen gekränkt, und ich lud ihn
ein, uns doch einmal zu besuchen und mir beim Training zuzusehen. Er brachte mich noch bis zur Straßenbahnhaltestelle an der Kalker Post, aber als ich drüben auf dem Platz ein freies Taxi stehen sah, rannte ich hinüber, setzte mich rein und sah nur noch Edgars verdutztes, gekränktes, bleiches, großes Gesicht. Es war das erste Mal, daß ich mir ein Taxi leistete, und wenn je ein Mensch ein Taxi verdient hat, dann war ich es an diesem Abend. Ich hätte es nicht ertragen, mit der Straßenbahn quer durch Köln zu bummeln und noch eine Stunde auf das Wiedersehen mit Marie zu warten. Das Taxi kostete fast acht Mark. Ich gab dem Fahrer noch fünfzig Pfennig Trinkgeld und rannte in unserer Pension die Treppe hinauf. Marie fiel mir weinend um den Hals, und ich weinte auch. Wir hatten beide soviel Angst ausgestanden, waren eine Ewigkeit lang voneinander getrennt gewesen, wir waren zu verzweifelt, uns zu küssen, flüsterten nur immer wieder, daß wir uns nie, nie, nie mehr trennen würden,
»bis daß der Tod uns scheidet«, flüsterte Marie. Dann machte Marie »sich fertig«, wie sie es nannte, schminkte sich, malte sich die Lippen, und wir gingen zu einer der Buden auf der Venloer Straße, aßen jeder zwei Portionen Gulasch, kauften uns eine Flasche Rotwein und gingen nach Hause.
Edgar hat mir diese Taxifahrt nie ganz verziehen. Wir sahen ihn danach öfter, und er half uns sogar noch einmal mit Geld, als Marie die Fehlgeburt hatte. Er sprach auch nie über die Taxifahrt, aber es blieb bei ihm ein Mißtrauen zurück, das bis heute nicht getilgt ist.
»Mein Gott«, sagte mein Vater laut und in einer neuen Tonlage, die mir ganz fremd an ihm war, »sprich doch laut und deutlich und mach die Augen auf. Auf den Trick fall ich nicht mehr rein.«
Ich machte die Augen auf und sah ihn an. Er war böse.
»Rede ich etwa?« fragte ich.
»Ja«, sagte er, »du murmelst vor dich hin, aber das einzige Wort, das ich verstehe, ist
»Das ist auch das einzige, das du verstehen kannst und verstehen sollst.«
»Und Verrechnungsscheck habe ich verstanden«, sagte er.
»Ja, ja«, sagte ich, »komm, setz dich wieder hin und sag mir, was du dir gedacht hast — als monatliche Unterstützung für ein Jahr.«
Ich ging zu ihm rüber, packte ihn sanft an den Schultern und drückte ihn in seinen Sessel. Er stand sofort wieder auf, und wir standen uns ganz nah gegenüber.
»Ich habe mir die Sache hin und her überlegt«, sagte er leise, »wenn du meine Bedingung der soliden, kontrollierten Ausbildung nicht wahrnehmen, sondern hier arbeiten willst . . . müßten eigentlich - na, ich dachte, zweihundert Mark im Monat reichen.« Ich war sicher, daß er zweihundertfünfzig oder dreihundert hatte sagen wollen, im letzten Augenblick aber zweihundert gesagt hatte. Er schien doch über meinen Gesichtsausdruck erschrocken zu sein, er sagte rascher als zu seiner gepflegten Erscheinung paßte: »Genneholm sprach davon, daß Askese die Grundlage der Pantomime sei.« Ich sagte immer noch nichts. Ich sah ihn nur an, mit »leeren Au- gen«, wie eine Kleistsche Marionette. Ich war nicht einmal wütend, nur auf eine Weise erstaunt, die das, was ich mühsam gelernt hatte: leere Augen zu haben, zu meinem natürlichen Ausdruck machte. Er wurde nervös, hatte leichte Schweißspuren auf der Oberlippe. Meine erste Regung war immer noch nicht Wut oder Verbitterung oder gar Haß; meine leeren Augen füllten sich langsam mit Mitleid.
»Lieber Papa«, sagte ich leise, »zweihundert Mark sind gar nicht so wenig, wie du zu glauben scheinst. Das ist eine ganz hübsche Summe, ich will nicht mit dir darüber streiten, aber weißt du wenigstens, daß Askese ein teures Vergnügen ist, jedenfalls die Askese, an die Genneholm denkt; er meint nämlich Diät und nicht Askese, viel mageres Fleisch und Salate - die billigste Form der Askese ist der Hunger, aber ein hungriger Clown — nun, ist immer noch besser als ein betrunkener.« Ich trat zurück, es
war mir peinlich, so nahe bei ihm
zu stehen, daß ich beobachten konnte, wie die Schweißperlen auf seinen Lippen dicker wurden.
»Hör mal«, sagte ich, »reden wir, wie es sich für Gentlemen ziemt, nicht mehr über Geld, sondern über etwas anderes.«
»Aber ich will dir wirklich helfen«, sagte er verzweifelt, »ich will dir gern dreihundert geben.«
»Ich will jetzt von Geld nichts hören«, sagte ich, »ich wollte dir nur erklären, was die erstaunlichste Erfahrung unserer Kindheit für mich war.«
»Was denn?« fragte er und sah mich an, als erwarte er ein Todesurteil. Er dachte wohl, ich würde von seiner Geliebten anfangen, der er in Godesberg eine Villa gebaut hat.
»Ruhig, ruhig«, sagte ich, »du wirst dich wundern; die erstaunlichste Erfahrung unserer Kindheit war die Erkenntnis, daß wir zu Hause nie richtig zu fressen bekamen.«
Er zuckte zusammen, als ich fressen sagte, schluckte, lachte dann knurrend und fragte: »Du meinst, ihr wärt nie richtig satt geworden?« — »Genau das«, sagte ich ruhig, »wir sind nie richtig satt geworden, wenigstens zu Hause nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob es aus Geiz oder aus Prinzip geschah, mir wäre lieber, ich wüßte, daß es aus Geiz geschah - aber weißt du eigentlich, was ein Kind spürt, wenn es den ganzen Nachmittag radgefahren, Fußball gespielt, im Rhein geschwommen hat?«
»Ich nehme an, Appetit«, sagte er kühl.
»Nein«, sagte ich, »Hunger. Verdammt, wir wußten als Kinder immer nur, daß wir reich waren, sehr reich - aber von diesem Geld haben wir nichts gehabt - nicht einmal richtig zu essen.«
»Hat es euch je an etwas gefehlt?«
»Ja, sagte ich, »ich sags ja: an Essen - und außerdem am Taschengeld. Weißt du,
ihrer Zeit voraus -, und es wimmelte bei uns ständig von irgendwelchen dummen Schwätzern, von denen jeder eine andere Ernährungstheorie hatte, leider spielte in keiner einzigen dieser Ernährungstheorien die Kartoffel eine positive Rolle. Die Mädchen in der Küche kochten sich manchmal welche, wenn ihr aus wart: Pellkartoffeln mit Butter, Salz und Zwiebeln, und manchmal weckten sie uns, und wir durften im Schlafanzug runter kommen und uns unter der Bedingung absoluter Verschwiegenheit mit Kartoffeln vollschlagen. Meistens gingen wir freitags zu Wienekens, da gab es immer Kartoffelsalat, und Frau Wieneken häufte uns den Teller besonders hoch voll. Und dann gab es bei uns immer zu wenig Brot im Brotkorb, eine knappe beschissene Angelegenheit war das, unser Brotkorb, dieses verdammte Knäckebrot, oder ein paar Scheiben, die »aus gesundheitlichen Gründen« halb trocken waren - wenn ich zu Wienekens kam und Edgar hatte gerade Brot geholt, dann hielt seine Mutter mit der linken Hand den Laib vor der Brust fest und schnitt mit der rechten frische Scheiben ab, die wir auffingen und mit Apfelkraut beschmierten.«
Mein Vater nickte matt, ich hielt ihm die Zigaretten hin, er nahm eine, ich gab ihm Feuer. Ich hatte Mitleid mit ihm. Es muß schlimm für einen Vater sein, sich mit seinem Sohn, wenn er schon fast achtundzwanzig ist, zum erstenmal richtig zu unterhalten. »Noch tausend andere Dinge«, sagte ich, »zum Beispiel Lakritzen, Luftballons. Mutter hielt Luftballons für reine Verschwendung. Stimmt. Sie sind reine Verschwendung - aber um eure ganzen Scheißmillionen als Luftballons in den Himmel zu schicken, hätte unsere Verschwendungssucht gar nicht ausgereicht. Und diese billigen Bonbons, über die Mutter ganz besonders gescheite Abschrek- kungstheorien hatte, die bewiesen, daß sie reines, reines Gift seien. Aber dann gab sie uns nicht etwa bessere Bonbons, die nicht giftig waren, sondern gar keine. Im Internat
wunderten sich alle«, sagte ich leise, »daß ich als einziger nie übers Essen murrte,
»Na, siehst du«, sagte er matt, »es hat wenigstens sein Gutes gehabt.« Es klang nicht sehr überzeugt und gar nicht glücklich, was er da sagte.
»Oh«, sagte ich, »über den theoretischen pädagogischen Wert einer solchen Erziehung bin ich mir vollkommen klar -aber es war eben alles Theorie, Pädagogik, Psychologie, Chemie - und eine tödliche Verdrossenheit. Bei Wienekens wußte ich, wann es Geld gab, freitags, auch bei Schniewinds und Holleraths merkte man, wenn es am Monatsersten oder am Fünfzehnten Geld gab - es gab was extra, für jeden eine besonders dicke Scheibe Wurst, oder Kuchen, und Frau Wieneken ging freitags morgens immer zum Friseur, weil am frühen Abend - nun, du würdest sagen, der Venus geopfert wurde.«
»Was«, rief mein Vater, »du meinst doch nicht.. .« Er wurde rot und sah mich kopfschüttelnd an.
»Doch«, sagte ich, »das meine ich. Freitags nachmittags wurden die Kinder ins Kino geschickt. Vorher durften sie noch Eis essen gehen, so daß sie für mindestens dreieinhalb Stunden aus dem Haus waren, wenn die Mutter vom Friseur kam und der Vater mit der Lohntüte nach Haus. Du weißt, so groß sind Arbeiterwohnungen nicht.« - »Du meinst«, sagte mein Vater, »du meinst, ihr hättet gewußt, warum die Kinder ins Kino geschickt wurden?«
»Natürlich nicht genau«, sagte ich, »und das meiste fiel mir erst später ein, wenn ich daran dachte - und erst viel später fiel mir ein, warum Frau Wieneken immer auf eine so rührende Art rot wurde, wenn wir dann aus dem Kino kamen und Kartoffelsalat aßen. Später, als er Platzwart wurde, war das anders - da war er wohl mehr zu Hause. Ich merkte als Junge nur immer, daß ihr irgendwie peinlich zu Mute war -und später erst fiel mir ein, warum. Aber in einer Wohnung, die aus einem großen Zimmer und einer Küche bestand, und mit drei Kindern - hatten sie wohl gar
keine andere Wahl.«
zufangen. Er empfand unsere Begegnung als tragisch, fing aber schon an, diese Tragik auf einer Ebene edlen Leidens auch ein bißchen zu genießen, Geschmack daran zu finden, und dann würde es schwer sein, ihn wieder auf die monatlichen dreihundert Mark zu bringen, die er mir angeboten hatte. Mit Geld war es ähnlich wie mit dem »fleischlichen Verlangen«. Keiner sprach richtig darüber, dachte richtig daran, es wurde entweder - wie Marie vom fleischlichen Verlangen der Priester gesagt hatte - »sublimiert« oder als ordinär empfunden, nie als das, was es im Augenblick war: Essen oder ein Taxi, eine Schachtel Zigaretten oder ein Zimmer mit Bad.
Mein Vater litt, es war offensichtlich und erschütternd. Er wandte sich zum Fenster hin, zog sein Taschentuch und trocknete sich ein paar Tränen. Ich hatte das noch nie gesehen: daß er weinte und sein Taschentuch richtig benutzte. Er bekam jeden Morgen zwei frische Taschentücher herausgelegt und warf sie abends ein bißchen verknautscht, aber nicht merklich angeschmutzt in den Wäschepuff in seinem Badezimmer. Es hatte Zeiten gegeben, in denen meine Mutter aus Sparsamkeit, weil Waschmittel knapp waren, lange Diskussionen mit ihm darüber führte, ob er nicht die Taschentücher wenigstens zwei oder drei Tage mit sich herumtragen könne. »Du trägst sie ja doch nur mit dir herum, und richtig schmutzig sind sie nie - und es gibt doch Verpflichtungen der Volksgemeinschaft gegenüber.« Sie spielte damit auf
»Kampf dem Verderb« und »Groschengrab« an. Aber Vater war — das einzige Mal, soweit ich mich erinnern konnte - energisch geworden und hatte darauf bestanden, morgens seine beiden frischen Taschentücher zu bekommen. Ich hatte noch nie ein Tröpfchen oder Stäubchen, irgend etwas, was Naseputzen notwendig gemacht hätte, an ihm gesehen. Jetzt stand er am Fenster und trocknete nicht nur Tränen, wischte sogar so etwas Ordinäres wie Schweiß von der Oberlippe. Ich ging raus in die Küche, weil er immer noch weinte, ich hörte ihn sogar ein bißchen schluchzen. Es gibt nur
we-
nige Menschen, die man gern dabei hat, wenn man weint, und ich dachte mir, der eigene Sohn, den man kaum kennt, wäre die am wenigsten angemessene Gesellschaft. Ich selbst kannte nur einen Menschen, in dessen Gegenwart ich weinen, konnte, Marie, und ich wußte nicht, ob Vaters Geliebte von der Art war, daß er in ihrer Gegenwart weinen konnte. Ich hatte sie nur einmal gesehen, sie lieb und hübsch und auf eine angenehme Weise dumm gefunden, hatte aber viel von ihr gehört. Von Verwandten war sie uns als geldgierige Person geschildert worden, aber in unserer Verwandtschaft galt jedermann als geldgierig, der so unverschämt war, daran zu erinnern, daß ein Mensch hin und wieder essen, trinken und Schuhe kaufen muß. Einer, der Zigaretten, warme Bäder, Blumen, Schnaps für lebensnotwendig erklärt, hat jede Chance, als
»irrsinniger Verschwender« in die Chronik einzugehen. Ich stelle mir vor, daß eine Geliebte eine kostspielige Person ist: sie muß ja wohl Strümpfe kaufen, Kleider, muß Miete zahlen und immer gut gelaunt sein, was nur möglich ist bei »vollkommen ausgeglichener Finanzlage«, wie Vater es ausgedrückt hätte. Wenn er nach den sterbenslangweiligen Aufsichtsratssitzungen zu ihr ging, mußte sie doch gut gelaunt sein, gut riechen, beim Friseur gewesen sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie geldgierig war. Wahrscheinlich war sie nur kostspielig, und das war in unserer Verwandtschaft gleichbedeutend mit geldgierig. Wenn der Gärtner Henkels, der dem alten Fuhrmann manchmal half, plötzlich mit erstaunlicher Bescheidenheit darauf aufmerksam machte, daß die Tarife für Hilfsarbeiter »eigentlich schon seit drei Jahren« höher seien als der Lohn, den er von uns bekam, hielt meine Mutter mit schriller Stimme einen zweistündigen Vortrag über die »Geldgier gewisser Leute«. Sie hatte einmal unserem Briefträger fünfundzwanzig Pfennige als Neujahrstrinkgeld gegeben und war empört gewesen, als sie am nächsten Morgen die fünfundzwanzig Pfennig in einem Briefumschlag im Postkasten fand mit einem Zettel, auf dem der
Briefträger schrieb: »Ich bringe es nicht über mich, Sie zu be-
rauben, gnädige Frau.« Natürlich kannte sie einen Staatssekretär im Postministerium, bei dem sie sich sofort über den »geldgierigen, impertinenten Menschen« beschwerte.
Ich ging in der Küche rasch um die Kaffeepfütze herum, durch die Diele ins Badezimmer, zog den Stöpsel aus der Wanne, und es fiel mir ein, daß ich das erste Bad seit Jahren genommen hatte, ohne wenigstens die Lauretanische Litanei zu singen. Ich stimmte leise summend das Tantum Ergo an, während ich mit der Brause die Schaumreste von den Wänden der sich leerenden Wanne spritzte. Ich versuchte es auch mit der Lauretanischen Litanei, ich habe dieses Judenmädchen Miriam immer gern gehabt, und manchmal fast an es geglaubt. Aber auch die Lauretanische Litanei half nichts, sie war wohl doch zu katholisch, und ich war wütend auf den Katholizismus und die Katholiken. Ich nahm mir vor, Heinrich Behlen anzurufen und Karl Emonds. Mit Karl Emonds hatte ich seit dem fürchterlichen Krach, den wir vor zwei Jahren hatten, nicht mehr gesprochen - und geschrieben hatten wir uns nie. Er war gemein zu mir gewesen, aus einem ganz dummen Grund: Ich hatte seinem jüngsten Sohn, dem einjährigen Gregor, ein rohes Ei in die Milch geschlagen, als ich auf ihn aufpassen mußte, während Karl mit Sabine im Kino und Marie beim »Kreis« war. Sabine hatte mir gesagt, ich solle um zehn die Milch aufwärmen, in die Flasche tun und Gregor geben, und weil der Junge mir so blaß und mickrig vorkam (er weinte nicht einmal, sondern quengelte auf eine mitleiderregende Weise vor sich hin), dachte ich, ein rohes Ei in die Milch geschlagen könnte ihm gut tun. Ich trug ihn, während die Milch warm wurde, auf den Armen in der Küche hin und her und sprach mit ihm: »Ei, was kriegt denn unser Jüngelchen, was geben wir ihm denn - ein Eichen« und so weiter, schlug dann das Ei auf, schlug es im Mixer und tat es Gregor in die Milch. Karls andere Kinder schliefen fest, ich war ungestört mit Gregor in der Küche, und als ich ihm die Flasche gab, hatte ich den Eindruck, daß das Ei in der
Milch ihm sehr wohltat. Er lächelte und schlief nachher sofort ein, ohne noch lange zu quengeln. Als Karl dann aus dem Kino kam, sah er die Eierschalen in der Küche, kam ins Wohnzimmer, wo ich mit Sabine saß, und sagte: »Das war vernünftig von dir, dir ein Ei zu machen.« Ich sagte, ich hätte das Ei nicht selber gegessen, sondern Gregor gegeben - und sofort brach ein wilder Sturm, ein Geschimpfe los. Sabine wurde regelrecht hysterisch und nannte mich »Mörder«, Karl schrie mich an: »Du Vagabund
Du Hurenbock«, und das machte mich so wild, daß ich ihn »verkrampfter Pauker« nannte, meinen Mantel nahm und in Zorn davonlief. Er rief mir noch in den Flur hinunter nach: »Du verantwortungsloser Lump«, und ich schrie in den Flur hinauf:
»Du hysterischer Spießer, du elender Steißtrommler.« Ich habe Kinder wirklich gern, kann auch ganz gut mit ihnen umgehen, besonders mit Säuglingen, ich kann mir nicht denken, daß ein Ei einem einjährigen Kind schadet, aber daß Karl mich ›Hu- renbock ‹ genannt hatte, kränkte mich mehr als Sabines ›Mörder‹. Schließlich kann man einer erregten Mutter einiges zubilligen und verzeihen, aber Karl wußte genau, daß ich kein Hurenbock war. Unser Verhältnis war auf eine idiotische Weise gespannt, weil er meine »freie Lebensweise« im Grunde seines Herzens »großartig« fand und mich seine spießige im Grunde meines Herzens anzog. Ich konnte ihm nie klar machen, aufweiche fast tödliche Weise regelmäßig mein Leben war, wie pedantisch es ablief mit Bahnfahrt, Hotel, Training, Auftritt, Mensch-ärgere-dich-nicht-spielen und Biertrinken - und wie mich das Leben, das er führte, gerade wegen seiner Spießigkeit anzog. Und er dachte natürlich, wie alle, daß wir absichtlich keine Kinder bekämen, Maries Fehlgeburten waren ihm »verdächtig«; er wußte nicht, wie gern wir Kinder gehabt hätten. Ich hatte trotz allem telegrafisch um einen Anruf gebeten, würde ihn aber nicht anpumpen. Er hatte inzwischen vier Kinder und kam nur sehr schlecht mit dem Geld hin.
Ich spritzte die Wanne noch einmal ab, ging leise in die
Diele und blickte in die offene Wohnzimmertür. Mein Vater stand wieder mit dem Gesicht zum Tisch und weinte nicht mehr. Mit seiner roten Nase, den feuchten, faltigen Wangen, sah er wie irgendein alter Mann aus, fröstelnd, auf eine über- raschende Weise leer und fast dumm. Ich goß ihm ein bißchen Kognak ein, brachte ihm das Glas. Er nahm es und trank. Der überraschend dumme Ausdruck auf seinem Gesicht blieb, die Art, wie er sein Glas leerte, es mir stumm, mit einem hilflosen Flehen in den Augen hinhielt, hatte fast etwas Trotteliges, das ich noch nie an ihm gesehen hatte. Er sah aus wie jemand, der sich für nichts, nichts mehr wirklich interessiert, nur noch für Kriminalromane, eine bestimmte Weinmarke und dumme Witze. Das zerknautschte und feuchte Taschentuch hatte er einfach auf den Tisch gelegt, und ich empfand diesen für ihn enormen Stilfehler als einen Ausdruck von Bockigkeit - wie bei einem unartigen Kind, dem schon tausendmal gesagt worden ist, daß man Taschentücher nicht auf den Tisch legt. Ich goß ihm noch etwas ein, er trank und machte eine Bewegung, die ich nur deuten konnte als »Bitte, hol mir meinen Mantel«. Ich reagierte nicht darauf. Ich mußte ihn irgendwie wieder auf Geld bringen. Es fiel mir nichts besseres ein als meine Mark aus der Tasche zu nehmen und mit der Münze ein bißchen zu jonglieren: ich ließ sie an meinem nach oben ausgestreckten rechten Arm herunterrollen — dann denselben Weg zurück. Seine Amüsiertheit über diesen Trick wirkte ziemlich gequält. Ich warf die Mark hoch, fast bis an die Decke, fing sie wieder auf- aber er wiederholte nur seine Geste: »Bitte, meinen Mantel.« Ich warf die Mark noch einmal hoch, fing sie auf dem dicken Zeh meines rechten Fußes auf und hielt sie hoch, ihm fast unter die Nase, aber er machte nur eine ärgerliche Bewegung und brachte ein knurriges »Laß das« zustande. Ich ging achselzuckend in die Diele, nahm seinen Mantel, seinen Hut von der Garderobe. Er stand schon neben mir, ich half ihm, hob die Handschuhe auf, die aus seinem Hut gefallen waren, und gab sie
ihm. Er war wieder nahe am Weinen, machte irgendwelche komi-
schen Bewegungen mit Nase und Lippen und flüsterte mir zu: »Kannst du mir nicht auch was Nettes sagen?«
»Doch«, sagte ich leise, »es war nett von dir, daß du mir die Hand auf die Schulter gelegt hast, als diese Idioten mich verurteilten - und es war besonders nett, daß du Frau Wieneken das Leben gerettet hast, als der schwachsinnige Major sie erschießen lassen wollte.«
»Ach«, sagte er, »das hatte ich alles schon fast vergessen.«
»Das ist besonders nett«, sagte ich, »daß du's vergessen hast - ich hab's nicht vergessen.«
Er sah mich an und flehte stumm, nicht Henriettes Namen zu nennen, und ich nannte Henriettes Namen nicht, obwohl ich vorgehabt hatte, ihn zu fragen, warum er nicht so nett gewesen war, ihr den Schulausflug zur Flak zu verbieten. Ich nickte, und er verstand: Ich würde nicht von Henriette sprechen. Sicher saß er während der Aufsichtsratssitzungen da, kritzelte Männchen aufs Papier und manchmal ein H, noch eins, manchmal vielleicht sogar ihren vollen Namen: Henriette. Er war nicht schuldig, nur auf eine Weise dumm, die Tragik ausschloß oder vielleicht die Voraussetzung dafür war. Ich wußte es nicht. Er war so fein und zart und silber- haarig, sah so gütig aus und hatte mir nicht einmal ein Almosen geschickt, als ich mit Marie in Köln war. Was machte diesen liebenswürdigen Mann, meinen Vater, so hart und so stark, warum redete er da am Fernsehschirm von gesellschaftlichen Verpflichtungen, von Staatsbewußtsein, von Deutschland, sogar von Christentum, an das er doch nach eignem Geständnis gar nicht glaubte, und zwar so, daß man gezwungen war, ihm zu glauben? Es konnte doch nur das Geld sein, nicht das konkrete, mit dem man Milch kauft und Taxi fährt, sich eine Geliebte hält und ins Kino geht - nur das abstrakte. Ich hatte Angst vor ihm, und er hatte Angst vor mir:
wir wußten beide, daß wir keine Realisten waren, und wir verachteten beide die, die
nen Augen las ich es: er konnte sein Geld nicht einem Clown geben, der mit Geld nur eins tun würde: es ausgeben, genau das Gegenteil von dem, was man mit Geld tun mußte. Und ich wußte, selbst wenn er mir eine Million gegeben hätte, ich hätte sie ausgegeben, und Geldausgeben war für ihn gleichbedeutend mit Verschwenden.
Während ich in der Küche und im Badezimmer wartete, um ihn allein weinen zu lassen, hatte ich gehofft, er würde so erschüttert sein, daß er mir eine große Summe schenkte, ohne die blöden Bedingungen, aber ich las jetzt in seinen Augen, er konnte es nicht. Er war kein Realist, und ich war keiner, und wir beide wußten, daß die anderen in all ihrer Plattheit nur Realisten waren, dumm wie alle Puppen, die sich tausendmal an den Kragen fassen und doch den Faden nicht entdecken, an dem sie zappeln.
Ich nickte noch einmal, um ihn ganz zu beruhigen: ich würde weder von Geld noch von Henriette anfangen, aber ich dachte an sie auf eine Weise, die mir ungehörig vorkam, ich stellte sie mir vor, wie sie jetzt wäre: dreiunddreißig; wahr- scheinlich von einem Industriellen geschieden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie diesen Kitsch mitgemacht hätte, mit Flirts und Parties und »Am Christentum festhalten«, in Komitees herumhocken und »zu denen von der SPD besonders nett sein, sonst bekommen sie noch mehr Komplexe«. Ich konnte sie mir nur desperat vorstellen, etwas tun, das die Realisten für snobistisch halten würden, weil es ihnen an Phantasie fehlte. Irgendeinem der unzähligen Träger des Präsidententitels einen Cocktail in den Kragen schütten oder einem zähnefletschenden Oberheuchler mit ihrem Auto in seinen Mercedes hineinfahren. Was hätte sie schon tun können, wenn sie nicht malen oder auf der Töpferscheibe Butterfäßchen hätte drehen können. Sie würde es doch spüren, wie ich es spürte, überall, wo sich Leben zeigte, diese un- sichtbare Wand, wo das Geld aufhörte, zum Ausgeben da zu sein, wo es unantastbar
wurde und in Tabernakeln als Ziffer existierte.
Ich gab meinem Vater den Weg frei. Er fing wieder an zu schwitzen und tat mir leid. Ich lief schnell ins Wohnzimmer zurück und holte das schmutzige Taschentuch vom Tisch und steckte es ihm in die Manteltasche. Meine Mutter konnte sehr unangenehm werden, wenn sie bei der monatlichen Wäschekontrolle ein Stück vermißte, sie würde die Mädchen des Diebstahls oder der Schlamperei bezichtigen.
»Soll ich dir ein Taxi bestellen?« fragte ich.
»Nein«, sagte er, »ich geh noch ein bißchen zu Fuß. Fuhrmann wartet in der Nähe des Bahnhofs.« Er ging an mir vorbei, ich öffnete die Tür, begleitete ihn bis zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Ich nahm noch einmal meine Mark aus der Tasche, legte sie auf die ausgestreckte linke Hand und blickte sie an. Mein Vater blickte angeekelt weg und schüttelte den Kopf. Ich dachte, er könnte wenigstens seine Brieftasche herausnehmen und mir fünfzig, hundert Mark geben, aber Schmerz, Edelmut und die Erkenntnis seiner tragischen Situation hatten ihn auf eine solche Ebene der Sublimierung geschoben, daß jeder Gedanke an Geld ihm widerwärtig, meine Versuche, ihn daran zu erinnern, ihm wie ein Sakrileg erschienen. Ich hielt ihm die Aufzugstür auf, er umarmte mich, fing plötzlich an zu schnüffeln, kicherte und sagte: »Du riechst wirklich nach Kaffee - schade, ich hätte dir so gern einen guten Kaffee gemacht - das kann ich nämlich.« Er löste sich von mir, stieg in den Aufzug, und ich sah ihn drinnen auf den Knopf drücken und listig lächeln, bevor der Aufzug sich in Bewegung setzte. Ich blieb noch stehen und beobachtete, wie die Ziffern aufleuchten: vier, drei, zwei, eins - dann ging das rote Licht aus.
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